Heuchlicheres “Gutmenschentum” aufgrund eines gesellschaftlichen Testosteronmangels?
Eine neue Studie hat gezeigt, dass die Verabreichung des Hormons Testosteron bei Männern zu einer signifikanten Abnahme von Lügen führt. Die Untersuchung, die von Matthias Wibral und seinem Team der Universität Bonn durchgeführt wurde, ist die erste ihrer Art, die einen kausalen Zusammenhang zwischen Testosteron und Lügenverhalten herstellt.
Die Studie umfasste 91 gesunde Männer im Alter von durchschnittlich 24 Jahren. Die Teilnehmer wurden in zwei Gruppen aufgeteilt, wobei eine Gruppe Testosteron erhielt und die andere ein Placebo. Anschließend wurden die Teilnehmer gebeten, an einem einfachen Experiment teilzunehmen, bei dem sie die Ergebnisse eines Würfelwurfs eingeben mussten. Die Bezahlung hing dabei von dem selbst berichteten Ergebnis ab.
Die Ergebnisse zeigten, dass diejenigen, die Testosteron erhielten, im Durchschnitt niedrigere Zahlen berichteten und somit auch niedrigere Zahlungen erhielten. Es wurde festgestellt, dass in beiden Gruppen gelogen wurde, jedoch lagen die gemeldeten Zahlungen in der Testosteron-Gruppe signifikant niedriger. Dieses Ergebnis wurde durch Regressionen gestützt, bei denen andere potenziell relevante Variablen berücksichtigt wurden, wie z.B. Persönlichkeitsmerkmale und wirtschaftliche Präferenzen.
Die Ergebnisse dieser Studie deuten darauf hin, dass Testosteron eine Rolle bei prosozialem Verhalten spielen könnte. Frühere Studien haben bereits gezeigt, dass Testosteron den Dominanz- und Aggressionsbereich beeinflusst, aber hier haben wir auch Hinweise darauf, dass Testosteron Verhalten beeinflussen kann, das darauf abzielt, den sozialen Status zu erhalten oder zu verbessern. Weiterführende Forschung ist jedoch erforderlich, um die genauen Mechanismen hinter diesem Zusammenhang zu verstehen.
Testosteron reduziert heuchlerisches “Gutmenschentum”
Eine frühere Studie mit 192 männlichen Teilnehmern zeigte, dass die einmalige Verabreichung von 150 mg Testosteron signifikante Auswirkungen auf das strategische soziale Verhalten hat. Insbesondere reduzierte Testosteron die Neigung, in sozialen Kontexten unehrlich zu sein, um das eigene Image zu verbessern. Unter Placebo-Bedingungen tendierten die Teilnehmer dazu, ihre Entscheidungen opportunistisch anzupassen, um als besonders sozial oder altruistisch wahrgenommen zu werden – ein Verhalten, das als strategische Prosocialität oder “Gutmenschentum” beschrieben werden kann. Nach der Gabe von Testosteron fiel dieser Effekt jedoch weg: Die Probanden trafen ihre Entscheidungen konsequenter nach objektiven Wertmaßstäben, selbst wenn dies zu sozialer Reibung oder negativen Bewertungen durch andere führte.
Diese Ergebnisse unterstützen die Hypothese, dass Testosteron nicht per se unethisches Verhalten fördert, sondern die soziale Anpassungsbereitschaft an Gruppennormen verringert. Dies könnte mit einer erhöhten Wahlkonsistenz zusammenhängen, da Testosteron in der Studie die Entscheidungsfindung dahingehend beeinflusste, dass Teilnehmer ihre Handlungen weniger an äußeren Erwartungen ausrichteten und stattdessen stabilere, intrinsisch motivierte Entscheidungen trafen. Neurowissenschaftliche Modelle deuten darauf hin, dass Testosteron seine Wirkung über die Modulation dopaminerger Prozesse im Belohnungssystem entfalten könnte, insbesondere in Bereichen wie dem ventralen Striatum, die für die Verarbeitung von sozialem Status und Dominanzverhalten relevant sind.
Testosteron sinkt Generation für Generation
Zahlreiche Studien belegen einen generationellen Rückgang des Testosteronspiegels, der bereits seit mehreren Jahrzehnten beobachtet wird. Während Männer in den 1980er Jahren in ihren 30ern noch einen durchschnittlichen Testosteronwert von etwa 550 ng/dL hatten, liegen die Werte heutiger 30-Jähriger oft nur noch bei 350–400 ng/dL – ein Niveau, das früher erst bei 70-Jährigen gemessen wurde. Dieser drastische Abfall ist nicht auf das natürliche Altern zurückzuführen, sondern zeigt eine generationsübergreifende Abwärtsspirale, die durch Umweltfaktoren wie schlechtere Ernährung, Bewegungsmangel, zunehmenden Stress, Schlafdefizite und hormonstörende Substanzen in Plastik und Nahrungsmitteln beeinflusst wird. Forscher vermuten zudem, dass ein veränderter Lebensstil mit weniger körperlicher Belastung und mehr sitzender Tätigkeit eine Rolle spielt. Die Konsequenz ist nicht nur eine geringere körperliche Leistungsfähigkeit und Fruchtbarkeit, sondern auch tiefgreifende psychologische und soziale Auswirkungen, da Testosteron eine Schlüsselrolle in Verhalten, Motivation und sozialer Interaktion spielt.
Der generationelle Rückgang des Testosteronspiegels bei Männern hat weitreichende gesellschaftliche Konsequenzen, insbesondere im Hinblick auf soziale Anpassung und Ehrlichkeit. Studien zeigen, dass Testosteron nicht nur mit physischer Vitalität, sondern auch mit Dominanzverhalten, Entscheidungsstärke und der Fähigkeit zur authentischen Selbstdarstellung korreliert. Ein niedrigerer Testosteronspiegel könnte dazu führen, dass Männer zunehmend dazu neigen, sich sozial opportunistisch zu verhalten, anstatt ihre eigenen Überzeugungen klar zu vertreten. Dies zeigt sich insbesondere darin, dass strategische Prosocialität – also Lügen oder übertrieben altruistisches Verhalten, um sozial besser dazustehen – in einer Gesellschaft mit sinkenden Testosteronwerten häufiger auftreten könnte. Wenn Testosteron traditionell mit dem Mut assoziiert wird, unbequeme Wahrheiten auszusprechen und sich gegen Gruppendruck zu behaupten, könnte ein langfristiger Hormonverlust dazu führen, dass Konformität und harmoniebasiertes Verhalten überhandnehmen – auch auf Kosten der Wahrhaftigkeit. Dies könnte eine Kultur fördern, in der oberflächliche soziale Zustimmung wichtiger wird als tiefgehende, ehrliche Auseinandersetzungen, was sich langfristig auf politische Entscheidungsprozesse, Unternehmenskulturen und persönliche Beziehungen auswirken könnte.
Insgesamt liefern diese Studien wichtige Erkenntnisse über die biologischen Grundlagen des Sozialverhaltens. Die Ergebnisse tragen zur aktuellen Debatte über die Auswirkungen von Testosteron auf prosoziales Verhalten bei und könnten möglicherweise dazu beitragen, besser die Zusammenhänge von gesellschaftlichen Dynamiken und biologischen/gesundheitlichen Grundlagen zu verstehen.
Quelle
Wibral, M., Dohmen, T., Klingmüller, D., Weber, B., & Falk, A. (2012). Testosterone administration reduces lying in men. PLoS ONE, 7(10), e46774.
Thomas G. Travison, Andre B. Araujo, Amy B. O’Donnell, Varant Kupelian, John B. McKinlay, A Population-Level Decline in Serum Testosterone Levels in American Men, The Journal of Clinical Endocrinology & Metabolism, Volume 92, Issue 1, January 2007, Pages 196–202, https://doi.org/10.1210/jc.2006-1375
Kutlikova HH, Zhang L, Eisenegger C, van Honk J, Lamm C. Testosterone eliminates strategic prosocial behavior through impacting choice consistency in healthy males. Neuropsychopharmacology. 2023 Sep;48(10):1541-1550. doi: 10.1038/s41386-023-01570-y. Epub 2023 Apr 3. Erratum in: Neuropsychopharmacology. 2023 Sep;48(10):1552. doi: 10.1038/s41386-023-01630-3. PMID: 37012404; PMCID: PMC10425362.
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