Ist ADHS nur ein Energiemangel des Gehirns?

Das menschliche Gehirn hat sich in einer evolutionären Umgebung entwickelt, die stark von der Lebensweise als Jäger und Sammler geprägt war. Diese Zeit erforderte eine hohe Anpassungsfähigkeit, stetige Bewegung und die Fähigkeit, schnell auf Veränderungen in der Umwelt zu reagieren. Doch das heutige sesshafte Leben mit einem Überfluss an verarbeiteten Lebensmitteln und wenigen Bewegungsanreizen steht im Widerspruch zu diesen evolutionären Grundlagen. Diese Diskrepanz, oft als “evolutionärer Mismatch” bezeichnet, erklärt, warum moderne Lebensbedingungen mit der Entstehung von ADHS und anderen Störungen in Verbindung gebracht werden können​​.

Eine Schlüsselrolle spielt dabei die Nahrung. Evolutionär artgerechte Nahrung bestand aus einer Kombination aus Proteinen, gesunden Fetten und unverarbeiteten Kohlenhydraten wie Wurzeln, Beeren und Blattgemüse. Dieses Ernährungsprofil unterschied sich grundlegend von der modernen Ernährung, die häufig aus raffinierten Kohlenhydraten, Zucker und minderwertigen Fetten besteht​​.

Evolutionäre Nahrung und Gehirngesundheit

Die traditionelle Ernährung der Jäger und Sammler versorgte das Gehirn mit einer stabilen Mischung aus Glukose, Laktat und Ketonen. In Zeiten geringer Nahrungsaufnahme, wie etwa beim Fasten, schaltete der Körper auf die Produktion von Ketonkörpern um. Diese Ketone, die durch den Abbau von Fettsäuren in der Leber entstehen, dienten als alternative Energiequelle für das Gehirn. Gleichzeitig spielte Laktat, das bei Muskelaktivität produziert wird, eine zentrale Rolle als Energielieferant​​.

Im Gegensatz dazu führt die moderne Ernährung zu schwankenden Blutzuckerwerten und einem Überangebot an Glukose, das langfristig zu Insulinresistenz und einer “Glukoseallergie” des Gehirns führen kann. Diese “Allergie” äußert sich in einem Glukosehypometabolismus, also der Unfähigkeit des Gehirns, Glukose effizient zu nutzen, was häufig bei Menschen mit ADHS beobachtet wird​​.

Der Gehirnstoffwechsel bei ADHS

Das Gehirn benötigt für fokussierte, ruhige Gedanken eine konstante Energieversorgung, insbesondere im Frontalhirn und im Kleinhirn, die für exekutive Funktionen und motorische Kontrolle verantwortlich sind. Wenn diese Bereiche aufgrund eines Glukosemangels unterversorgt sind, führt dies zu Unruhe, Konzentrationsproblemen und Impulsivität – den typischen Symptomen von ADHS​​.

Studien zeigen, dass das Gehirn von ADHS-Betroffenen auf alternative Energiequellen wie Ketonkörper und Laktat angewiesen sein könnte, um den Energiemangel auszugleichen. Ketone können nicht nur den Energiebedarf decken, sondern wirken auch entzündungshemmend und schützen die Nervenzellen​​.

Im Gespräch mit Ally Houston

In unserem Gespräch teilt Ally Houston faszinierende Einblicke aus seiner persönlichen und beruflichen Erfahrung als Experte für Metabolische Psychiatrie und selbst Betroffener von ADHS. Er erklärt, wie die ketogene Ernährung nicht nur seine Symptome, sondern auch sein Leben verändert hat. Gemeinsam diskutieren wir, warum das Gehirn manchmal wie ein “Motor ohne Treibstoff” funktioniert und wie alternative Energiequellen wie Ketonkörper diesen Mangel ausgleichen können. Ally teilt konkrete Tipps, wissenschaftliche Erkenntnisse und inspirierende Geschichten von seiner Arbeit mit Patienten, die durch eine angepasste Ernährung Ruhe und Klarheit in ihr Leben bringen konnten. Dieses Interview ist ein Muss für jeden, der nach neuen Ansätzen zur Behandlung von ADHS sucht – und für alle, die die Kraft der Ernährung auf das Gehirn verstehen möchten.

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Ketogene Ernährung als Therapie

Die ketogene Ernährung, die auf einer fettreichen und kohlenhydratarmen Nahrungszusammensetzung basiert, hat sich in den letzten Jahren als vielversprechender Ansatz zur Behandlung von neuropsychiatrischen Störungen, einschließlich ADHS, herauskristallisiert. Harvard, Stanford und Oxford zählen zu den führenden Institutionen, die den Einsatz der ketogenen Ernährung in der sogenannten metabolischen Psychiatrie erforschen. Dieses neue medizinische Feld untersucht, wie Stoffwechselinterventionen zur Heilung psychischer und neurologischer Störungen beitragen können​​​.

Bei ADHS ermöglicht die ketogene Ernährung dem Gehirn, auf Ketone umzuschalten, die eine stabilere Energieversorgung gewährleisten als schwankende Glukose. Erste Studien zeigen, dass ketogene Diäten die Symptome von ADHS lindern können, indem sie die Energieversorgung des Frontalhirns und Kleinhirns verbessern und gleichzeitig Entzündungen reduzieren​​.

Darüber hinaus könnten Betroffene von der Nutzung von Laktat profitieren, das durch regelmäßige körperliche Aktivität produziert wird. Bewegung erhöht nicht nur die Durchblutung des Gehirns, sondern liefert auch Energie in Form von Laktat, was die kognitiven Funktionen bei ADHS unterstützen kann​​.

Fazit

ADHS könnte in vielerlei Hinsicht als Ausdruck eines energetischen Ungleichgewichts im Gehirn betrachtet werden, das durch eine nicht evolutionär artgerechte Lebensweise verstärkt wird. Eine Rückkehr zu evolutionär angepasster Ernährung und Bewegungsmustern – mit einem Fokus auf Ketonkörpern und Laktat als alternative Energiequellen – bietet ein vielversprechendes Konzept.

Die ketogene Ernährung und die metabolische Psychiatrie zeigen, dass eine gezielte Veränderung des Stoffwechsels das Gehirn nachhaltig unterstützen kann. Während weitere Forschung notwendig ist, könnte diese Strategie ein zentraler Bestandteil einer zukunftsorientierten Behandlung von ADHS und ähnlichen Störungen werden.

Quellen

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